Entwickelte Küstenregionen, vernachlässigtes Hinterland
Gravierende Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung und im Lebensstandard der Bevölkerung zwischen den tunesischen Regionen gelten als Hauptursache der Revolution von 2011. Während sich wirtschaftliche Aktivitäten auf die Wachstumszone um Tunis und die Küstenregionen konzentrieren, ist das Wirtschaftswachstum im Hinterland, im ländlichen Süden und in den Regionen Nord-West und Zentral-West, gering. So erreicht die Arbeitslosenrate im Hinterland durchschnittlich 23%, während sie in Tunis 15% und im Küstengürtel nur 10% beträgt.
In der im September 2014 veröffentlichten nationalen Strategie für Wirtschaftsentwicklung und Investitionsförderung bildet das Thema der ausgeglichenen regionalen Entwicklung eine der vier zentralen Säulen. Die Strategie stellt fest, dass zentralisierte Entscheidungsgewalt in Tunis, zentrale Planungslogik, mangelnde Koordination der Sektorministerien in den Regionen und ungenügende Infrastruktur in den Regionen die Hauptursachen der unausgewogenen Entwicklung sind. Die Regierung schlägt vor, künftig die Entwicklung und Umsetzung von Regionalentwicklungsplänen den einzelnen Regionen zu überantworten.
In der neuen Verfassung vom Januar 2014 werden weitere Grundsteine für eine zukünftige Regionalentwicklung gelegt: Die Regionen sollen ebenso wie Kommunen über ein direkt gewähltes Vertretungsorgan verfügen, das im Rahmen eigener regionaler Zuständigkeiten und Ressurcenausstattung Selbstverwaltungsrechte genießen wird.
Vorgehensweise
Ziel des Vorhabens ist es, die institutionellen Voraussetzungen für eine effektive und partizipative Regionalentwicklung in Tunesien zu verbessern. Dazu berät das Vorhaben auf nationaler Ebene sowie regional in den sieben besonders benachteiligten Gouvernoraten des Nord-Westens und Zentral-Westens:
• Auf nationaler Ebene unterstützt das Vorhaben Ministerien bei der Entwicklung von Gesetzen, Förderprogrammen und Verwaltungsverfahren, die der Regionalentwicklung dienen und sich an der in der neuen Verfassung vorgesehenen tiefgreifenden Dezentralisierung des Landes orientieren.
• Auf regionaler Ebene wendet sich das Vorhaben an Regionalräte, regionale Entwicklungsagenturen und Regionalverwaltungen, um sie für ihre Aufgaben im Bereich der Regionalentwicklung zu stärken. Formate guter regionaler Regierungsführung werden erprobt, Dialoge zur Regionalplanung und -entwicklung angestoßen sowie Instrumente der Regionalentwicklung in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen, privatwirtschaftlichen und kommunalen Akteuren verbessert.
Wirkung – Was bisher erreicht wurde
Wichtigster Beitrag der deutschen Zusammenarbeit bislang ist die Entwicklung und Einführung einer neuen Art der Regionalplanung in ausgewählten Gouvernoraten (aufgrund ihrer ursprünglich umweltpolitischen Herkunft „(„Plans Régionaux de l’Environnement et du Développement Durable"/ PREDD genannt). Diese Form nachrevolutionärer Planung:
• ist beteiligungsorientiert und nicht wie bisher zentralstaatlich vorgegeben (Einbeziehung von staatlichen, unternehmerischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren in einer Vielzahl von Workshops und Foren);
• ist direkt an den Bedarfen der Regionen orientiert;
• baut auf einer Situationsanalyse durch tunesische Spezialisten auf, die auch nach den Ursachen bisher ausgebliebener Entwicklungserfolge fragen;
• ist in dezentraler Verantwortung initiiert und gesteuert (statt wie bislang aus Tunis);
• ist wachstumsförderlich und armutsmindernd durch die mittel- bis langfristige Schaffung von Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten.
Die regionalen Entwicklungspläne wurden auch in der Diskussion zwischen verschiedenen Ministerien berücksichtigt und haben mit konkreten Projektvorschlägen Eingang in das nationale Strategiedokument für die Wirtschaftsentwicklung und Investitionsförderung von Oktober 2014 („Investir en Tunisie: start-up democracy") gefunden.
Ein Beispiel aus der Praxis
Auf Anregung des Vorhabens wurde eine Arbeitsgruppe mit Vertretern des Innen- sowie Wirtschafts- und Finanzministeriums ins Leben gerufen, um die besonderen Anforderungen der Regionalentwicklung an die zukünftige Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung Tunesiens zu formulieren: Welche Ebene wird zukünftig über regionale Entwicklungspläne und Infrastrukturprojekte entscheiden? In welchem Umfang können Bürgerinnen und Bürger dabei mitentscheiden? Wie kann ein Finanzausgleich zu Gunsten der vernachlässigten Regionen aussehen? Welche Rolle wird den Kommunen zukommen?
Die Arbeitsgruppe wird von deutschen und tunesischen Experten begleitet. Im Rahmen einer Studienreise nach Deutschland konnte das Funktionieren von Regionalplanung und Regionalentwicklung in einem dezentralisierten Land verdeutlicht werden.