„Eine innovative und gleichzeitig verantwortungsvolle digitale Zukunft ist möglich“
Der „Vater des Internets“, Vint Cerf, und Ingrid-Gabriela Hoven, stellvertretende GIZ-Vorstandssprecherin, machen deutlich, weshalb der Schutz eines offenen Internets und die Förderung der Just Digital Governance entscheidend für eine nachhaltige Entwicklung und die weltweite Zusammenarbeit sind.
ist ein US-amerikanischer Informatiker, der aufgrund seiner Beiträge zu dessen Architektur und Standardisierung als einer der Gründerväter des Internets angesehen wird. Er ist eine der führenden Stimmen für einen offenen, weltweiten Internetzugang. Unter anderem steht er dem Leitungsgremium des Internet Governance Forums (IGF) als Vorsitzender vor.
Das Internet und eine nachhaltige Entwicklung – zwei Dinge, die man für gewöhnlich nicht miteinander verbindet. Wie hängen sie zusammen?
Ingrid-Gabriela Hoven (IGH): Sehr viel enger, als man zunächst vermutet! Ein freies und offenes Internet kann uns dabei helfen, die Ziele der Agenda 2030 zu erreichen. Laut UN könnten digitale Technologien mehr als zwei Drittel der Ziele für nachhaltige Entwicklung direkt unterstützen. Von mobilem Zahlungsverkehr über klimaintelligente Landwirtschaft bis hin zu Fernunterricht sind digitale Technologien in der Lage, wesentliche Impulse zur menschlichen Entwicklung zu geben. Angesichts der komplexen globalen Herausforderungen, vor denen wir stehen – Armut, Klimawandel oder Gesundheitskrisen –, bieten diese Technologien Chancen, die wir nicht ungenutzt lassen dürfen.
Vint Cerf (VC): Wie Ingrid aufzeigt, spielen digitale – allen voran internetbasierte – Technologien schon jetzt eine Schlüsselrolle in der menschlichen Entwicklung. Von mobilen Apps und Suchmaschinen bis hin zu komplett webbasierten Plattformen bildet das Internet das Rückgrat der heutigen Innovation. Und das geht längst über Smartphones hinaus; Tablets, Smartwatches und internetfähige Geräte wie Sicherheitskameras, intelligente Haushaltsgeräte, selbstfahrende Autos und unzählige andere Anwendungen wirken in unseren Alltag hinein. Diese Technologien eröffnen zum einen neue Wege, Vertrautes auf neuartige Weise zu erledigen. Zum anderen schaffen sie neue Möglichkeiten – von denen viele nachhaltiger als ihre Vorgänger sind. Mit all seinen Ressourcen und im Zusammenspiel mit Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI) kann das Internet dazu beitragen, eine nachhaltigere Welt zu gestalten.
Welche sind Ihrer Erfahrung nach die tiefgreifendsten Auswirkungen digitaler Technologie auf heutige Gesellschaften?
VC: Digitale Technologien eröffnen uns Zugang zum Wissen der Welt – eingefangen und zugänglich gemacht durch Suchmaschinen und KI-Anwendungen. Wir verfügen heute über direkte Kommunikationswege – per Sprache, Video oder Text –, über die wir zu geringen Kosten die ganze Welt erreichen. Sie verstärken und erweitern die menschliche Leistungsfähigkeit, etwa indem automatische Übersetzungen uns plötzlich Zugang zu Hunderten Sprachen eröffnen. Aufgaben, für die einst Stunden oder gar Tage benötigt wurden, sind nun in Millisekunden abgeschlossen. Wir können diese immense Rechenleistung nutzen, um das Planen, Gestalten und Ausführen unzähliger Prozesse zu beschleunigen.
IGH: Wie Vint gerade deutlich gemacht hat, spielen digitale Technologien eine wichtige Rolle bei der Stärkung menschlicher Fähigkeiten. Genau das sehen wir auch in schwierigen Kontexten wie der Ukraine. Digitale Technologien haben das Potenzial, Gesellschaften zu transformieren, indem wirtschaftlicher Wohlstand gefördert, mehr Beteiligung und Inklusion ermöglicht und die Resilienz gestärkt wird. Trotz der andauernden Kriegssituation nutzen 21 Millionen Ukrainer*innen weiterhin wichtige staatliche Dienstleistungen über die ukrainische E-Government-App Diia, und zwar auf ihren Smartphones. Sie können ihre Meldeadresse ändern, Geburten eintragen oder ihren Führerschein online aufrufen. Durch Initiativen wie GovStack unterstützen wir die Ukraine bei der Entwicklung dieser unverzichtbaren öffentlichen Infrastruktur. GovStack erstellt und teilt „digitale Bausteine“, die es Regierungsverantwortlichen ermöglichen, E-Government-Dienste zu entwickeln, ohne jedes Mal bei null anfangen zu müssen.
„Das Internet funktioniert grenzübergreifend, Datenpakete machen nicht an Grenzen halt. Wir sind auf internationale Zusammenarbeit angewiesen.“
Frau Hoven, wie kann die GIZ das Potenzial digitaler Technologien für eine nachhaltige Entwicklung nutzen?
IGH: In der GIZ integrieren wir digitale Technologien von Anfang an in unser Projektdesign. Um die Umsetzung unseres Do-no-harm-Prinzips zu gewährleisten, haben wir eine Menschenrechtsanalyse für digitale Projekte entworfen – unseren Digital Rights Check.
Wir haben das Potenzial von künstlicher Intelligenz schon früh verstanden, insbesondere das von Open-Source-KI – also frei zugänglichen KI-Modellen. Die Zahlen sprechen für sich: Die UN-Wirtschaftskommission für Afrika schätzt, dass KI bis 2030 eine Steigerung von Afrikas Bruttoinlandsprodukt um 1,5 Billionen US-Dollar bewirken kann. Unsere FAIR-Forward-Initiative unterstützt seit 2019 eine offene, inklusive und lokal betriebene KI. In Ruanda haben wir zum Beispiel Open-Voice-Datensätze in Kinyarwanda mitentwickelt und damit eine KI aufgebaut, die dem lokalen Sprachbedarf entspricht. Gleichzeitig arbeiten wir eng mit unseren Partnern auf Regierungsebene zusammen und fördern die Ausarbeitung notwendiger regulatorischer Rahmenwerke, wie Kenias KI-Strategie. Diese wurde 2025 veröffentlicht und war das erste Dokument auf dem afrikanischen Kontinent, das von staatlicher Seite eine Vision für eine ethische, inklusive und innovationsorientierte KI-Nutzung auf den Weg brachte.
Herr Cerf, haben Sie als einer der Gründungsväter des Internets von Anfang an dessen Potenzial für die Entwicklung und Inklusion erkannt? Was sind die Gründe für den Erfolg des World Wide Web?
VC: Meine Kolleg*innen und ich sahen einen Teil des Potenzials, aber sicher nicht das gesamte. Ein Hauptgrund für den Erfolg des Internets ist, dass alle seine „Baupläne“ freigegeben wurden und die offene Architektur zur Innovation einlud. Die Einfachheit des Systems ermöglichte uns die Einbindung neuer Technologien wie Glasfaser und Low-Earth-Orbit-Satelliten, ohne die grundlegenden Protokolle zu ändern, auf deren Grundlage das Internet funktioniert. Für Forschung und Privatwirtschaft taten sich ungeahnte Möglichkeiten auf, neue Anwendungen zu erfinden. Investitionen von staatlicher Seite und aus der Privatwirtschaft haben das Wachstum sowohl in absoluten Zahlen als auch in der Funktionalität vorangetrieben. Es ist faszinierend zu sehen, wie eine offene Architektur zu inklusiver Innovation führte – eine Lektion, aus der wir heute noch lernen können.
ist stellvertretende GIZ-Vorstandssprecherin. Die Entwicklungsökonomin beschäftigt sich in ihrer Arbeit besonders mit den Themen Nachhaltigkeit, Klimaschutz, digitale Entwicklung und Global Governance.
„Junge Menschen sind nicht nur die Zukunft gerechter digitaler Governance, sie gestalten sie schon heute aktiv mit.“
Insgesamt sind noch 2,6 Milliarden Menschen – also ein Drittel der Weltbevölkerung – offline. Internetabschaltungen und geopolitische Spannungen nehmen zu. Angesichts dieser Hürden: Was sehen Sie als die größten Hindernisse beim Aufbau inklusiver und menschenrechtsbasierter digitaler Ökosysteme?
VC: Als sich das Internet auf die breite Öffentlichkeit und den Privatsektor ausweitete, öffnete es zugleich die Tür für missbräuchliches und in manchen Fällen auch illegales Verhalten. Unsere große Herausforderung besteht darin zu bestimmen, welche Akteure für ihre Verfehlungen gegenüber der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Das Internet funktioniert grenzübergreifend, Datenpakete machen nicht an Staatsgrenzen halt. Wir sind daher auf internationale Zusammenarbeit angewiesen, um kriminelle Akteure zur Verantwortung zu ziehen.
IGH: Vint hat auf die Notwendigkeit globaler Zusammenarbeit hingewiesen, denn die weltumspannende Natur des Internets schafft auch ein Dilemma. Das Internet ist ein globales Gut, dessen Relevanz für nationale und geopolitische Interessen stetig wächst. Wir müssen diesen Spannungen so begegnen, dass Missbrauch verhindert und ein sinnvoller sowie erschwinglicher Zugang für alle Menschen ermöglicht wird. Aber bei Inklusion geht es nicht nur um Konnektivität, sondern auch um Vertrauen. Die Menschen müssen sich online sicher fühlen können. Der Zugang zu vertrauenswürdigen Medien und verlässlichen Informationen, eine solide Cybersicherheit, der Schutz von Menschenrechten und die Rechenschaftspflicht müssen im Zentrum unserer digitalen Ökosysteme stehen. All dies erfordert die Zusammenarbeit verschiedener Branchen und Interessengruppen über Grenzen hinweg.
Was können wir tun, um diese Herausforderungen anzugehen?
IGH: Die digitale Kluft zu überbrücken und allen Menschen Internetzugang zu ermöglichen, ist ein wichtiger erster Schritt. Es ist aber noch nicht genug. Wir brauchen eine gerechte digitale Governance, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Technologieregulierung und digitale Infrastruktur müssen die Perspektiven der Betroffenen widerspiegeln, seien es lokale Gemeinschaften, Vertreter*innen aus Lehre und Forschung oder Städte und Dörfer. Die GIZ fördert dies durch Initiativen wie DataCipation. Das Programm unterstützt die Afrikanische Union dabei, eine inklusive Digital- und Datenpolitik auf den Weg zu bringen. Ein weiteres Beispiel sind die Internationalen Digitaldialoge (International Digital Dialogues). Sie fördern den technischen Austausch zu unterschiedlichen Themen der Netzpolitik über verschiedene Interessengruppen hinweg und in zahlreichen Ländern, darunter Indien, Indonesien, Brasilien und Mexiko. Dazu stärken wir die Teilhabe der Zivilgesellschaft und den Schutz von Menschenrechten – etwa mit unseren Responsible AI Assessments –, damit digitale Systeme für alle funktionieren.
VC: Zusätzlich zu inklusiver Governance müssen wir auch die einzelnen Menschen direkt befähigen. Wir können Menschen sicheres Netzverhalten beibringen. Wir müssen Menschen in die Lage versetzen, defensive Technologien zu nutzen, um sich selbst zu schützen. Gleichzeitig gilt es, neue gesellschaftliche Normen zu etablieren, nach denen es als inakzeptabel gilt, anderen online Schaden zuzufügen – ähnlich wie beim Rauchen heutzutage.
Weshalb sind Multi-Stakeholder-Plattformen wie das Internet Governance Forum (IGF) so wichtig, um ein offenes, freies, inklusives und globales Internet zu ermöglichen?
VC: Die besten politischen Maßnahmen berücksichtigen die Perspektiven aller relevanten Akteure. Wir müssen verstehen, welche Auswirkungen bestimmte Regelungen auf die unterschiedlichen Teile unserer globalen Gesellschaft haben werden. Wir benötigen verlässliche Daten zur Qualität von Internetdiensten, wo auch immer sie angeboten werden. Das IGF hat immens aufschlussreiche Informationen darüber erarbeitet, wie das Internet auf der ganzen Welt erlebt wird.
IGH: Ihr Hinweis auf Daten und Repräsentation ist entscheidend, Vint. Ich stimme da voll zu: Multi-Stakeholder-Plattformen wie das IGF sind unentbehrlich. Und warum? Weil ein gerechter digitaler Wandel nur möglich ist, wenn die Betroffenen mit am Tisch sitzen. Deshalb unterstützen wir unsere Partner aktiv dabei, Teil des globalen IGF zu werden.
Ob auf globaler, regionaler oder nationaler Ebene – das IGF schafft Räume für Regierungen, Zivilgesellschaften, Tech-Unternehmen sowie für akademische und technische Gemeinschaften, um sich als Gleiche unter Gleichen auszutauschen. In vielen unserer Projekte – in Afrika, Südosteuropa und Zentralasien – helfen wir über das globale IGF hinaus dabei, nationale und regionale Foren durch programmatische Unterstützung, Befähigung junger Menschen oder die Einbindung von Beteiligten zu stärken.
Just Digital Governance bedeutet, den digitalen Wandel auf eine am Menschen orientierte und inklusive Weise zu entwickeln. Es geht darum, klare Regeln und Werte auf den Weg zu bringen. Technologie und Digitalisierung sollen so gestaltet werden, dass sie eine gerechte Politik im Hinblick auf Internet, künstliche Intelligenz und Daten, eine umfassende Internetkonnektivität und ausgewogene Strategien zur Plattformregulierung ermöglichen. Ziel ist es, Menschenrechte zu schützen, Gleichstellung zu garantieren und sicherzustellen, dass alle – und nicht nur einige wenige – vom digitalen Fortschritt profitieren. Just Digital Governance untersucht, wie digitaler Wandel die politische Beteiligung, Wirtschaftsentwicklung, Gesundheit und Bildung unterstützen kann – und wie gleichzeitig Gefahren für Demokratie, Inklusion und rechtsstaatliche Gesellschaften angegangen werden können.
In der GIZ fördern wir daher den inklusiven Dialog zwischen allen Akteuren – zum Beispiel durch das Internet Governance Forum (IGF) – zur Stärkung der weltweiten Zusammenarbeit und Rechenschaftspflicht. Zusammen mit verschiedenen Partnern verpflichtet sich die GIZ dazu, eine digitale Governance zu fördern, in der Menschen und Rechte im Mittelpunkt stehen.
Wenn wir einmal nach vorne sehen: Was macht Ihnen Hoffnung, dass eine am Menschen orientierte, offene digitale Zukunft möglich ist?
IGH: Trotz aller Schwierigkeiten sehe ich eine lebendige, kreative und engagierte Internet-Governance-Gemeinschaft, die an einer digitalen Zukunft arbeitet, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht. Das Modell der Multi-Stakeholder-Zusammenarbeit, wie wir es am Beispiel des IGF sehen, ist hierfür der Schlüssel! Auf allen Ebenen kommen gleichgesinnte Akteure zusammen, um sich das Potenzial digitaler Technologien zunutze zu machen und gleichzeitig deren Risiken zu begegnen. Die Hamburger Erklärung für verantwortungsvolle künstliche Intelligenz (KI) zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele (SDGs) ist ein großartiges Beispiel dafür. Dieses im Juni 2025 auf der Hamburg Sustainability Conference (HSC) unterzeichnete Dokument markiert ein neues Maß an Verpflichtung, KI verantwortungsbewusst zu entwickeln und einzusetzen, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Die Erklärung brachte bisher über 50 Organisationen an einen Tisch – Tendenz steigend –, darunter weltweit führende Vertreter*innen von Regierungen und internationalen Organisationen sowie aus Privatwirtschaft, Forschung und Zivilgesellschaft.
Was mich noch mehr mit Hoffnung erfüllt, ist die unglaubliche Energie und das Engagement junger Menschen! Ob die Youth IGFs überall auf der Welt oder die von unserem Digitalministerium geförderten International Digital Policy Fellows – junge Menschen sind nicht nur die Zukunft gerechter digitaler Governance, sie gestalten sie schon heute aktiv mit.
VC: Es gibt tatsächlich viele Gründe, optimistisch zu bleiben. Wir sehen etwa bereits, wie KI und digitale Tools bahnbrechende Entwicklungen fördern, von der verbesserten Krankheitsdiagnose bis zur Entwicklung neuer medizinischer Behandlungen. KI fördert unser Verständnis von Wissenschaft und Technologie.
Gleichzeitig sind uns die potenziellen Gefahren einer uneingeschränkten Nutzung des Internets und seiner Anwendungen bewusster als jemals zuvor. Entscheidungsträger*innen erkennen zunehmend, wie sehr das Internet zu einem festen Bestandteil unseres Alltags geworden ist. Und sie arbeiten aktiv daran, dass wir es besser nutzen und steuern. Es ist diese Kombination aus technologischem Fortschritt und größerem gesellschaftlichen Bewusstsein, die Anlass zur Hoffnung gibt, dass eine innovative und gleichzeitig verantwortungsvolle digitale Zukunft möglich ist.