„Wenn junge Menschen aus ihrem Umfeld herausgerissen werden, ist das für sie belastend“
Fünf Fragen an Tobias Becker, Landesdirektor der GIZ in Pakistan zur Situation afghanischer Flüchtlinge, zu Veränderungen und künftigen Herausforderungen.
01.09.2021
Seit mehr als vier Jahrzehnten nimmt Pakistan Afghaninnen und Afghanen auf. Mehr als die Hälfte der weltweit registrierten Flüchtlinge aus Afghanistan lebt hier. Offiziell sind es 1,4 Millionen Menschen; geschätzt eine weitere Million Menschen ist inoffiziell im Land. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH unterstützt die pakistanische Regierung und die aufnehmenden Gemeinden dabei, ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten.
Herr Becker, was brauchen Afghaninnen und Afghanen, die aus ihrer Heimat nach Pakistan geflohen sind?
Zum Beispiel sauberes Wasser. Wobei wir immer die aufnehmenden Gemeinden mitdenken – also die Bevölkerung, die bereits an einem Ort wohnt. Zu dieser kommen dann die Geflüchteten hinzu. Damit steigen die Anforderungen an die Infrastruktur. Allein im Jahr 2020 konnten wir Wasserversorgung für 24.500 Personen einrichten. Das hilft, Spannungen zwischen Aufnahmegemeinden und Flüchtlingen wegen dieser knappen Ressource zu verringern. Die Wasserversorgung ist aber nur ein Aspekt in einem größeren Ganzen: Wir beraten Provinzregierungen beispielsweise auch dazu, wie sie den Zugang zu Schulen und Gesundheitseinrichtungen für afghanische Flüchtlinge verbessern können.
Was ist dabei wichtig?
Es ist sinnvoll, Maßnahmen so zu gestalten, dass beide Gruppen davon profitieren. Also Geflüchtete und Bevölkerung der aufnehmenden Gemeinde. Schließlich unterscheiden sich die benötigten Bildungs- und Gesundheitsleistungen nicht: angefangen von der Versorgung für schwangere Frauen und Geburtshilfe über Verletzungen bis hin zu chronischen Krankheiten. Mich beeindruckt etwa das Beispiel einer afghanischen Ärztin, die seit 22 Jahren in Pakistan lebt und hier afghanische und pakistanische Kinder behandelt, die an der genetischen Blutkrankheit Thalassämie leiden.
Gibt es auch Unterschiede bei der Arbeit mit Flüchtlingen und der ortsansässigen Bevölkerung?
Gerade wenn junge Menschen aus ihrem Umfeld herausgerissen werden und in einem Land aufwachsen, das sie nicht kennen, ist das für sie belastend. Gleiches gilt für Jugendliche, die hier geboren sind und nicht wissen, ob und wann ihre Familien nach Afghanistan zurückkehren können. Daher stehen im Bereich mentale Gesundheit Flüchtlinge im Vordergrund unserer Arbeit. Für sie ist es viel schwieriger eine Schulbildung und später eine Ausbildung zu erhalten oder zu studieren. Umso wichtiger ist es für sie, mentale Unterstützung zu bekommen. Wir machen das vor allem über Sportveranstaltungen und über geschützte Räume, in denen sich insbesondere Frauen in einem vertraulichen Rahmen austauschen können. Dort bekommen sie auch Hilfestellung, wie sie mit ihren Belastungen umgehen können. Gemeinsam mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bieten wir auch Möglichkeiten zur Berufsbildung an.
Welche Veränderungen beobachten Sie in den letzten Jahren?
Das zuständige pakistanische Ministerium und UNHCR stellen fest, dass die Menschen nicht mehr in den Gemeinden nahe den Grenzübergängen oder in Flüchtlingsdörfern bleiben. Sie gehen in die Städte wie Quetta, Peschawar, Islamabad und Rawalpindi. Daher unterstützen wir genau dort das Ministerium beim Aufbau von Anlaufstationen für afghanische Flüchtlinge – sogenannte Urban Cohesion Hubs. Dort arbeiten zum Beispiel Rechtsberater sowie Psychologinnen und Psychologen. Sie unterstützen Menschen in Einzelgesprächen und Gruppenterminen und beraten sie zu Bürgerrechten und Themen wie Kindesschutz und genderbasierter und häuslicher Gewalt. Gerade auch während der COVID-19-Pandemie war diese psychologische Beratung für sie hilfreich. Es gibt aber auch Bildungsangebote wie Alphabetisierungs-, Computer- und Englischkurse. Und auch hier schließt sich der Kreis, wenn ein aus seiner Heimat geflohener afghanischer Musiker nun selbst Kinder und Jugendliche unterrichtet.
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 rechnen viele damit, dass mehr Menschen aus Afghanistan nach Pakistan fliehen werden. Weitet die GIZ daher ihre Aktivitäten aus?
Alle relevanten Organisationen bereiten sich auf steigende Flüchtlingszahlen vor. Wir arbeiten schon seit 2009 mit der pakistanischen Regierung im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und des Auswärtigen Amts zusammen. In Abstimmung mit unseren Auftraggebern prüfen wir, wie wir unsere Aktivitäten anpassen oder ausweiten können. Auch solche, die bislang nicht speziell auf Flüchtlinge ausgerichtet sind. Gerade in den Bereichen soziale Sicherung und Berufsbildung sowie Sanitär und Hygiene haben wir in Pakistan die Erfahrung und die Strukturen, um zeitnah zu unterstützen. Wir müssen das nicht neu aufbauen.