18.01.2022
Interview: „Mein Chef hat mich für verrückt erklärt“
In einer globalisierten Welt können Krankheiten schnell zum weltweiten Problem werden. Wie kann die internationale Zusammenarbeit zur globalen Gesundheit beitragen? Ein Gespräch mit dem Mediziner und GIZ-Gesundheitsexperten Paul Rückert.
Herr Rückert, spätestens durch die Corona-Pandemie ist sehr klar geworden, dass Gesundheit in einer globalisierten Welt ein Thema ist, das alle Menschen betrifft. Hat diese Sichtweise vor 30 Jahren, als sie bei der GIZ in Pakistan anfingen, schon eine Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit gespielt?
Natürlich kam es damals schon vor, dass ein Cholera-Ausbruch in einem Land Ausbrüche in anderen Ländern zufolge hatte. Den Ausdruck Global Health gab es zu dieser Zeit allerdings noch nicht – der hat sich erst später etabliert. Wichtiger ist aber die Haltung, die hinter dem Begriff steht: Es geht nicht darum, dass die vermeintlich entwickelten Industrienationen ein bisschen auf Wohltätigkeitsorganisation in den ärmeren Ländern machen. Durch die Globalisierung sitzen wir alle im selben Boot – wir sind voneinander abhängig. Wenn wir Gesundheit für alle Menschen weltweit wollen, müssen wir mit unseren Partnerländern auf Augenhöhe zusammenarbeiten, mit anderen Disziplinen kooperieren und Gesundheitsprobleme gemeinsam lösen.
Wie kann die internationale Zusammenarbeit dazu beitragen?
Global Health erfordert viel Expertise und eine andere Kooperation auf globaler Ebene. Hier kann die internationale Zusammenarbeit und speziell eine Organisation wie die GIZ einen wichtigen Beitrag leisten. Erstens können wir im Bereich Gesundheitsdiplomatie beraten, zum Beispiel beim Entwickeln von politischen und fachlichen Richtlinien.
Das Zweite ist die Koordinierung: Die GIZ kann Programme nicht nur auf Landesebene, sondern auch regional und global koordinieren – aber auch zwischen verschiedenen Bereichen, weil wir über unsere Auftraggeber in internationalen und multilateralen Organisationen involviert sind. Auch innerhalb der GIZ haben wir gelernt, dass Gesundheit nur dann erfolgreich ist, wenn unterschiedliche Bereiche kooperieren. Zum Beispiel Gesundheit im Zusammenhang mit Umwelt oder sozialer Sicherung.
Und das Dritte ist die Frage, was man auf Länderebene macht. Denn die Richtlinien müssen auch eingehalten und umgesetzt werden können. Man muss im engen stetigen und vertrauensvollen Austausch und gemeinsamen Lernen mit den Partnern zusammenarbeiten, um Reformen umzusetzen.
Wo sehen Sie hier die Stärken der GIZ – vor allem auch seit der Fusion aus den drei Vorgängerorganisationen DED, GTZ und InWEnt 2011?
Die GIZ ist in mehr als 120 Ländern aktiv und hat daher den Vorteil, internationale und nationale Expert*innen vor Ort zu haben bzw. zu kennen. Außerdem haben wir in vielen Ländern einen systemischen Ansatz: Das heißt, wir beraten Politik und Verwaltung zu verschiedenen Themen, arbeiten aber auch gemeinsam mit NGOs direkt mit den Menschen vor Ort, zum Beispiel in Krankenhäusern.
Seit der Fusion hat sich das Zusammenspiel der unterschiedlichen Methoden deutlich verbessert. Insgesamt hat die GIZ ein diverses Personal mit unterschiedlichsten Kompetenzen und Erfahrungen, sodass wir für jedes Projekt das perfekte Team zusammenstellen können. Neben den klassischen Berater*innen sind das auch Entwicklungshelfer*innen und sogenannte integrierte Fachkräfte, die ganz nah mit und sogar in unseren Partnerorganisationen arbeiten – wie Angestellte. Das unterscheidet uns von anderen Organisationen.
Wie hat sich die internationale Zusammenarbeit beim Thema Gesundheit in den letzten Jahren entwickelt?
Die Leute, die vor 30 Jahren im Gesundheitsbereich gearbeitet haben, wollten anpacken, nach dem Motto: Wir helfen den Menschen vor Ort mit Geld, Personal, Medikamenten und Geräten. Man arbeitete damals häufig mit Pilotprojekten: Es ging erstmal nur um eine kleine Modellregion, die dann idealerweise zum Standard fürs ganze Land werden sollte. Das war Veränderung von unten nach oben, von der lokalen Projektarbeit hoch zur nationalen Gesundheitspolitik. Heute ist die Arbeit im Gesundheitsbereich viel politischer. Die nachhaltige Wirkung der Maßnahmen ist immer wichtiger geworden. Das war eine Veränderung über viele Jahrzehnte hinweg.
Haben Sie ein Beispiel für diese Nachhaltigkeit?
Mir war es immer wichtig zu sehen, ob man etwas einführen kann, das dem ganzen Land hilft. In Indonesien hatten wir ab 1999 die Aufgabe, gemeinsam mit der Regierung das Gesundheitssystem in einem riesengroßen Land mit damals 250 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zu verändern. Dazu gehörte, eine neue Gesetzgebung für soziale Sicherung zu entwickeln. Mein damaliger Chef hat mich für verrückt erklärt und gefragt, ob ich jemals ein Gesetz geschrieben hätte. Das seien Aufgaben für die Weltbank, Weltgesundheitsorganisation und andere Einrichtungen – nicht für die GIZ. Aber zusammen mit den Partnern vor Ort haben wir es trotzdem gemacht.
Als ich in Indonesien angefangen habe, hatten ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung eine von damals vier verschiedenen Krankenversicherungen. Heute sind es 90 Prozent, und es gibt nur noch eine große Versicherungsgesellschaft mit mehr als 5,3 Milliarden Euro Umsatz. Und: Es ist keine Entwicklungsorganisation von außen, die die Versicherungsbeiträge übernimmt. Die Leute zahlen selbst für die Krankenversicherung, die Beiträge für die mittellosen Bürger*innen übernimmt der Staat. So ist ein System entstanden, das sich selbst erhält. Das wäre heute vergleichbar damit, einem Land oder noch besser einer Region zu zeigen, wie man Impfstoff selbst herstellt – statt die Impfstoffe nur dorthin zu liefern.
Wie schwer war es, das Projekt umzusetzen?
Um zu erkennen, welche Veränderungen es braucht, muss man ein Land verstehen. Zugleich muss man die Leute finden, die Veränderung vorantreiben und ermöglichen können. Das sind beispielsweise Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Verwaltung. Den Reformwillen muss man auch erstmal herauskitzeln. Es kommt dabei sehr auf Feingefühl an: Wo steht ein Land? Was will die Regierung und welche Schritte sind noch zu tun? Nur Vorschreiben – das funktioniert nicht. Es ist wichtig, die eben genannten Menschen vor Ort zu finden und fachlich zu unterstützen, damit sie diese Reformen voranbringen. In Indonesien war dies der Fall.
Wo sehen Sie heute Schwachstellen in der internationalen Zusammenarbeit beim Thema globale Gesundheit?
Bestimmte Themen sind Modethemen. Zum Beispiel Mutter-Kind-Gesundheit: Fast in jedem Land gibt es mindestens fünf Organisationen, die zu diesem Thema arbeiten. Was oft fehlt, ist die Koordinierung zwischen den verschiedenen Organisationen. Das heißt, jede Organisation entwickelt eine Guideline, einen eigenen Ansatz. Es ist wenig Abstimmung da – das steht Reformen im Weg, um genau diese Organisationen überflüssig zu machen. Wir haben immer versucht, enger mit anderen zusammenzuarbeiten, es kommt dann einfach mehr an Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Partnerorganisationen dabei heraus.
Sie sagten vorhin, bei Global Health gehe es um Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Was kann Deutschland von anderen Ländern lernen?
Die Digitalisierung ist in vielen Entwicklungsländern deutlich weiterentwickelt als in Deutschland. In Kambodscha habe ich bereits im März 2021 einen digital lesbaren Impfausweis bekommen. In diesen Ländern werden Gesundheitsdaten – nicht nur zu Covid-19 – deutlich systematischer erfasst.
Liegt das an den strengen Datenschutzgesetzen in Deutschland?
Datenschutz ist kein Hindernis für Digitalisierung, vielmehr ist Digitalisierung im Gesundheitsbereich ohne Schutz der Privatsphäre eigentlich nicht zu erreichen. In vielen Ländern gibt es bisher noch keine gute Gesetzgebung. Aber wenn wir als GIZ mitarbeiten, haben wir natürlich immer den Anspruch, dass die Datensicherheit gewährleistet ist. Deutschland hat gute Gesetze, dafür aber manchmal Schwierigkeiten, schnell umsetzbare Lösungen zu finden. Im Übrigen muss es ja nicht immer sein, dass ein Land weiter vorne ist als das andere. Voneinander lernen kann man auch, weil man sich gerade dieselben Fragen stellt.
Zur Person: Paul Rückert, 66, ist promovierter Mediziner und Absolvent der renommierten Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, USA. Von 1994 an arbeitete er als Experte für globale Gesundheit für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH in Pakistan, Indonesien, Bangladesch, Nepal und Kambodscha. Sein Traumjob war es anfangs nicht. Doch dann packte es ihn. Und er blieb – bis zur Rente.