Seit dem Beginn des Arabischen Frühlings am 17. Dezember 2010 erlebt Tunesien einen umfassenden demokratischen Wandel. Eine neue Verfassung, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie erste Kommunalwahlen gehören zu den Errungenschaften. Auch die Digitalisierung trägt dazu bei: Sie fördert das Vertrauen und sorgt für mehr Bürgerbeteiligung in den Kommunen.
„Es ist dieser Moment, der für immer in meiner Erinnerung bleibt“, erzählt Hanen Othmani. Die 38-Jährige ist Bürgermeisterin der Gemeinde Menzel Salem im Gouvernement Kef im Nordwesten von Tunesien. Sie hat gemischte Gefühle, wenn sie an die Revolution 2010/11 denkt. Sie verspürt Befreiung und zugleich Zukunftsängste. Damals versammelten sich Tunesier*innen aus allen Regionen des Landes in den Straßen und setzten mit landesweiten Massenprotesten den sogenannten „Arabischen Frühling“ in Gang. Der Aufstand, dessen Gründe unter anderem auf hohe Arbeitslosigkeit und Unterdrückung der Zivilgesellschaft zurückzuführen sind, erzwang den Rücktritt von Diktator Ben Ali. Seitdem schlägt Tunesien einen demokratischen Weg ein. Wichtige Etappen waren die ersten freien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen samt einer neuen Verfassung 2014 und die ersten Kommunalwahlen im Mai 2018. Dennoch spürt vor allem die Bevölkerung im strukturschwachen Landesinneren wenig vom demokratischen Wandel. Es mangelt noch an Transparenz, Bürgernähe und Beteilungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene.
Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH unterstützt die Kommunen im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums (BMZ) und der „Sonderinitiative zur Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrika und Nahost“ seit 2015 dabei, bürgernäher, transparenter und dienstleistungsorientierter zu arbeiten. Sie fördert die Modernisierung der Verwaltung, bildet das Personal entsprechend aus und berät Jugend- und Frauenorganisationen. Durch die Maßnahmen soll das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Einrichtungen erhöht und dadurch das politische System gefestigt werden.
Digitalisierung fördert Vertrauen
Die Gemeinde von Bürgermeisterin Hanen Othmani hat bereits von dem Vorhaben profitiert, beispielsweise bei der Erstellung einer Webseite für die Stadtverwaltung. „Sie ermöglicht uns, schnell und einfach Informationen mit den Bürger*innen zu teilen, Auskünfte über das lokale Leben zu finden und das öffentliche Bild der Gemeinde aufzubessern. Besonders wertvoll war der Dialog mit den Bürger*innen. Mit Hilfe von Umfragen konnten wir mehr über ihre Meinungen und Empfehlungen zu Projekten erfahren. Auch Bürger*innen aus anderen Gemeinden haben sich mit uns ausgetauscht. Seither ist das Engagement der Bevölkerung gestiegen.“
Ein weiterer Erfolg ist das Web-Radio von Menzel Salem. Hier konnten sich vor allem die jungen Bürger*innen gut einbringen. „Das Radio hat sie motiviert und dazu ermutigt, ihre Willenskraft und ihre Fähigkeiten für eine bessere Zukunft einzusetzen. Heute nehmen sie mehr am politischen Leben teil, sind bei wesentichen Entscheidungen der Gemeinde präsent“, sagt Othmani stolz. Sie weiß, wie schwierig und wichtig es zugleich ist, das Vertrauen der jungen Generation zu gewinnen. Die Jugend ist ein bedeutender Akteur für die Zukunft des Landes. Immerhin ist gut die Hälfte der tunesischen Bevölkerung jünger als 30 Jahre.
Eine junge Gemeinde braucht auch eine moderne, transparente Verwaltung mit leichtem Zugang zu Informationen und Angeboten: „Im digitalen Zeitalter wollen wir unsere Dienstleistungen digitalisieren, um besser auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen zu können“, sagt Bürgermeisterin Othmani. Dies gilt nur nicht digital, sondern auch für den persönlichen Austausch. Aktuell entsteht in Menzel Salem mit Hilfe der GIZ ein Bürgerbüro („espace citoyen“). Bereits in fünfzehn Kommunen in Tunesien gibt es Bürgerbüros – von ihnen profitieren potenziell rund 808.000 Menschen.
Bürger*innen sind wichtige Partner bei Entscheidungsfindung
Neben der Initiative der GIZ und den digitalen Möglichkeiten waren die ersten Kommunalwahlen 2018 ganz wesentlich für die stärkere Selbstverwaltung von tunesischen Gemeinden wie Menzel Salem. Seither ist die Entscheidung des Gemeinderates direkt an die der Bürger*innen gebunden. „Sie sind Partner bei der Entscheidungsfindung. Sie schätzen partizipatorische Veranstaltungsformate und den Informationsaustausch zu wichtigen Themen innerhalb der Gemeinden. Sie versuchen stets an den Treffen teilzunehmen und diskutieren hier über Investitionsbudgets oder Gemeinschaftsprojekten aktiv mit“, erklärt Hanen Othmani.
Knapp zwei Jahre ist die 38-jährige Bürgermeisterin im Amt. Einige Vorhaben in ihrer Gemeinde sind bereits auf einem guten Weg. Dennoch – zehn Jahre nach der Revolution – gibt es in großen Teilen des Landes wie auch in Menzel Salem noch genug zu tun: „Ich möchte die Entwicklung der lokalen Wirtschaft fördern und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. Das ist eine der großen Herausforderungen in unserer Gemeinde, die wir noch lösen müssen“, sagt sie entschieden und lächelt.
Stand: Dezember 2020