Ob Lieferantin, IT-Kraft oder Kosmetiker: Weltweit bieten rund 70 Millionen Menschen ihre Dienstleistungen auf digitalen Plattformen an. Die Arbeitsmodelle sind flexibler als traditionelle Jobs, bedeuten für viele aber auch lange Arbeitszeiten, geringe Bezahlung und kaum Arbeitsschutz. Das Fairwork-Projekt will das ändern – und bewertet dazu digitale Arbeitsplattformen in über 24 Ländern. Diese Transparenz zeigt Wirkung.
Parag* kann sich nicht vorstellen, wieder als Angestellter zu arbeiten. Früher saß er bis zu zwölf Stunden am Tag in einem Callcenter in Bangalore. Mittlerweile arbeitet er von zuhause als selbständige IT-Fachkraft im Auftrag von Urban Company. Die digitale Plattform beschäftigt ihn aber nicht direkt, sondern vermittelt ihn an unterschiedliche Auftraggeber*innen. Er entscheidet selbst, ob er einen Auftrag annimmt oder ablehnt. Dieses Arbeitsmodell ist als „Gig Economy“ bekannt: Arbeiter*innen erhalten über eine Plattform Aufträge für oft kurzfristige Dienstleistungen. Parag schätzt dabei die Flexibilität: „Bei der Plattform bin ich mein eigener Chef. Es gibt keinen Druck und auch keine Zeitvorgaben.“
Rund 70 Millionen Menschen arbeiten weltweit in der Gig Economy, ob als IT-Kraft oder Fahrdienstleister*in. Allen ist gemein, dass sie ihre Dienstleistungen als Selbständige anbieten – und das, obwohl sie oft ausschließlich für eine Plattform arbeiten. Doch wie können die Menschen davon leben? Bisher gab es dazu keine transparenten Daten. Das Fairwork-Projekt will diese Lücke schließen: Forschende dokumentieren die Arbeitsbedingungen auf großen Plattformen und veröffentlichen das Ergebnis jährlich in einer Rangliste. Unterstützung erhält das Projekt von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums (BMZ). In Kooperation mit dem Oxford Internet Institute und dem Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) fördert sie die Forschungsarbeit und unterstützt strategisch sowie organisatorisch die Expansion des Projekts. Dafür vernetzt sie Fairwork mit internationalen Partner*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Die Schattenseite der neuen Arbeitswelt
Wie ist es also um die Arbeitsbedingungen auf den Plattformen bestellt? Das Fazit von Fairwork fällt gemischt aus: Sie schaffen Jobs und senken Eintrittsbarrieren in den Arbeitsmarkt. Doch in vielen Fällen umgehen die Plattformen klassisches Arbeitsrecht, da Selbständige nicht denselben Schutz wie Angestellte genießen. Auf der ganzen Welt arbeiten dadurch Menschen unter unfairen Bedingungen: geringe Löhne, keine Versicherung und kein Arbeitsschutz. Hinzu kommen undurchsichtige Verträge zu Lasten der Arbeitenden.
Davon kann der 33-jährige Narayan* ein Lied singen. Während der Corona-Pandemie hatte er seinen Job in einer Näherei verloren. Seither fährt er im indischen Bangalore Taxi für ein großes Plattform-Unternehmen und kommt damit kaum über die Runden. Während des Lockdowns konnte er zwei Monate nicht arbeiten, musste aber dennoch Unterhalt für das Auto bezahlen, das die Plattform ihm stellt. Auch nach dem Lockdown bleiben die finanziellen Probleme: „Um dasselbe wie in der Näherei zu verdienen, arbeite ich nun 14 Stunden am Tag. Früher waren es nur acht.“ Narayan ist kein Einzelfall. Wie ihm geht es vielen der 1,3 Millionen „Selbständigen“ in Indiens wachsender Gig Economy.
Einheitliche Standards für faire Arbeitsbedingungen
Um derartige Praktiken ans Licht zu bringen, veröffentlicht Fairwork jährlich eine Rangliste der Arbeitsbedingungen digitaler Plattformen. Dafür hat das Projekt fünf Prinzipien für faire Arbeit, darunter faire Bezahlung und faire Verträge, in einem kollektiven Prozess entwickelt. Darin sind die Erkenntnisse des internationalen Netzwerks und die Stimmen von Arbeiter*innen aus aller Welt eingeflossen. Sie bieten einen Maßstab für faire Plattformarbeit und damit Orientierung für Plattform-Arbeiter*innen und Unternehmen, Konsument*innen und politische Entscheidungsträger*innen.
In Indien bewertete das Projekt unabhängig elf große Anbieter. Fünf von ihnen haben sich nach der Beurteilung sowie Beratung der Fairwork zu besseren Arbeitsbedingungen verpflichtet und messbare Änderungen realisiert: Das reicht von einem Mindestlohn nach Abzug der Betriebskosten über bezahlte Krankentage bis zu vereinfachten Verträgen. Davon profitieren hunderttausende Plattformtätige in ganz Indien. Professor Mark Graham, Direktor der Fairwork, erklärt: „Alle Arbeiter*innen inklusive Plattformarbeiter*innen verdienen faire Arbeitsbedingungen. Niemand sollte weniger als den Mindestlohn verdienen oder ohne ein ordentliches Verfahren entlassen werden können. Vor allem in Indien haben wir gesehen, wie einige Unternehmen, motiviert durch den Kontakt zu Fairwork, aber auch durch Organisierungsbemühungen der Arbeiter*innen, ihre Geschäftspraktiken überdenken und beginnen, bessere Arbeitsbedingungen im Einklang mit den Fairwork-Grundsätzen anzubieten. Die jüngsten Ergebnisse zeigen, dass es auch für die indischen Plattformen noch viel zu tun gibt, um grundlegende Mindeststandards für gute Arbeit zu gewährleisten."
Fairwork richtet sich nicht nur an die Plattformen selbst: In Zusammenarbeit mit der GIZ erstellt das Projekt Informationsmaterial, um Arbeitende über ihre Rechte aufzuklären. Trainings- und Beratungsangebote fördern ihre Karrierechancen. Zudem geht die GIZ auf Politik, Gewerkschaften und andere Interessengruppen zu, um für bessere Arbeitsbedingungen zu werben. Mittlerweile nutzt IFAT, der indische Verband für App-basierte Transportarbeitende, die Ratings in ihren Kampagnen. Auch im indischen Parlament werden die Ergebnisse aufgegriffen.
Dass Parag zu besseren Konditionen arbeitet, ist auch auf das Engagement von Fairwork zurückzuführen. Nach einem direkten Austausch hat sich Urban Company dazu verpflichtet, den Mindestlohn einzuhalten – nach Abzug aller arbeitsbezogenen Kosten. Außerdem hat sich die Firma zu Lohnfortzahlungen verpflichtet. Parag ist damit zufrieden: „Ich habe mehr Freizeit und verdiene trotzdem so viel wie bei meinem alten Job.“ Das zeigt: Bessere Arbeitsbedingungen in der Gig Economy sind möglich. Die positive Resonanz hat dafür gesorgt, dass Fairwork mit Unterstützung der GIZ nun in insgesamt 24 Länder expandiert, um weitere Plattformen und deren Arbeitsbedingungen zu bewerten.
*Name der Person wurde auf ihren Wunsch von der Redaktion geändert.
Stand: Mai 2022